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150 Jahre ev.-luth. Kirchengemeinde Westrhauderfehn
Magret Taute: Alle, die sie miterlebt haben, erinnern sich gewiss noch gern an die 200-Jahr-Feier der beiden Rhauderfehne vor zehn Jahren, im Frühsommer 1969. In vielerlei Veranstaltungen wurde zum Ausdruck gebracht, daß die Fehntjer mit Stolz zurückblicken auf die mühsamen und entbehrungsreichen Anfänge der Moorkultivierung, und daß sie in Hochachtung und Dankbarkeit der ersten Kolonisten gedenken. Seinen Höhepunkt erreichte das Fest mit dem großen Umzug und der stimmungsvollen Beleuchtung der Kanäle und Wieken mit Torffackeln. Damals also, vor zehn Jahren, feierten die politischen Gemeinden ihr zweihundertjähriges Bestehen; in diesem Jahr, am 24. Juni 1979, hat die Kirchengemeinde Westrhauderfehn Jubiläum: Sie wird 150 Jahre alt. Es dauerte also sechzig Jahre, bis die Fehnbewohner daran denken konnten, ihre eigene Kirchengemeinde zu gründen, die von Anfang an geplant und genehmigt war. Schon daraus wird deutlich, wie schwer die Anfänge der Kolonisation gewesen sein müssen, und wie karg die Mittel waren, die den Siedlern zur Verfügung standen. Vor der Gründung des Rhauderfehns gab es in Ostfriesland und im benachbarten Holland bereits ältere Fehnsiedlungen; aber als Ostfriesland nach dem Tode seines letzten Fürsten Carl Edzard am 25. Mai 1744 in preußischen Besitz überging, erhielt es mit Friedrich dem Großen einen Landesherren, dem die Kultivierung und Besiedlung von Ödland ein ganz besonderes Anliegen war, was in dem Urbarmachungsedikt vom 22. Juli 1765 zum Ausdruck kam. Sümpfe wurden trockengelegt, unzugängliche Gebiete erschlossen, neues Land wurde gewonnen, und bei der Moorkultivierung kam dann noch die Erschließung einer damals wichtigen Energiequelle hinzu: Man gewann Brenntorf. Es ist sicher kein Zufall, daß die Gründung des Rhauderfehns gerade in diese Zeit fällt. Fünf Wochen vor der Unterzeichnung des Urbarmachungsedikts stellten die Kaufleute Heinrich Thomas Stuart und Johann Friedrich Heydecke aus Leer, der Receptor Ahlrich Weyhers Ibeling aus Breinermoor, der Amtmann Rudolph Heinrich Carl von Glan und der erbgesessene Hausmann Wille Janssen aus Holte beim König den gemeinsamen Antrag, ihnen die etwa 4000 Diemat (3200 Hektar) großen Hochmoorflächen südlich von Rhaude zur Kultivierung gegen Entrichtung bestimmter Abgaben zu überlassen. Es dauerte vier Jahre, bis die fünf "Entrepreneurs" die Verleihungsurkunde mit der eigenhändigen Unterschrift des Königs am 19. April 1769 zugestellt bekamen; allerdings wurden ihnen zunächst nur 1500 Diemat, also ca. 1200 ha, zugewiesen. Auch sonst stellten sich der Rhauderfehn-Gesellschaft viele Hindernisse in den Weg. Mit den Orten Rhaude und Holte mußte wegen der Gebietsabtretungen für den Hauptkanal verhandelt werden; der Malteser-Orden und die Einwohner von Langholt fühlten sich in ihren Interessen, beeinträchtigt und machten erhebliche Schwierigkeiten, so daß es zu jahrelangen Verhandlungen und Prozessen kam. Schließlich aber wurde der Rhauderfehnkanal zur Leda, der für die Entwässerung des Moores notwendig war, 1774 fertiggestellt, und man konnte mit der eigentlichen Gründung und Anlage des Fehns beginnen. Dass hierbei alle mit zupacken und von morgens bis abends arbeiten mußten, versteht sich von selbst. Auch die Kinder wurden nicht geschont. Dabei kam natürlich der Schulbesuch zu kurz. Im Jahre 1769 beklagte der Kircheninspektor und Pastor Reil aus Detern, daß sich die Fehnsiedler nicht um die schulische Unterweisung ihrer Kinder kümmerten. Er forderte sie auf, entweder eine Sommerschule mit einem "Schulhalter" einzurichten oder die Kinder nach Rhaude in die Schule zu schicken. Seine Ermahnungen hatten aber nur wenig Erfolg. Viele Siedler behielten ihre Kinder zu Hause und führten als Entschuldigung an, daß diese bei der Arbeit im Moor als Mithelfer unentbehrlich seien. III. Die Parochie Rhaude Die Fehnsiedler hatten zunächst weder für die Gründung einer eigenen Kirchengemeinde noch für die Einrichtung einer Schule die Mittel. So wurden sie von Rhaude aus betreut. Damals bestanden bzw. entstanden außer in der Muttergemeinde Schulen in Langholt, Burlage und Moorhusen - dem heutigen Rhaudermoor. Dorthin gingen die Kinder der Kolonisten, bis 1790 eine eigene Schule gebaut wurde. Sie stand auf dem vorderen Teil des alten Friedhofs am Untenende, der allerdings erst vier Jahre später angelegt wurde. Während sich das Fehn in schulischer Hinsicht schon 21 Jahre nach der Gründung selbständig machte, blieb es noch fast 40 Jahre länger ein Teil der Kirchengemeinde Rhaude. Diese alte Gemeinde bestand schon vor der Reformation, wenngleich aus dieser Zeit keine Urkunden überliefert sind. Der erste Rhauder Pastor, dessen Name überliefert ist, war Johann Elling, der 1584 nach Breinermoor zog. Auch aus der folgenden Zeit sind nicht alle Namen und Daten vollständig festgehalten. Von 1637 bis 1642, im Dreißigjährigen Krieg, war Rhaude ohne Pastor. Ab 1642 ist das Register der Pastoren erhalten. Genannt sei hier nur der schon erwähnte Pastor Johann Julius Friedrich Reil aus Braunschweig, der von 1749 bis 1759 in Rhaude wirkte. Er war der Vater des berühmten Arztes Dr. Reil, der sich als Freund Goethes und als Generaldirektor der Preußischen Lazarette im Befreiungskrieg einen Namen machte. Als das Rhauderfehn geplant wurde und die ersten Siedler ins Fehngebiet kamen, amtierte in Rhaude Pastor Rudolf Taute, der 1768 nach Timmel ging. Seine Nachfolger waren Johann Bernhard Hagius von Westerbur (bis 1774), Johann Volkmar Stopffel (1774 bis 1790) und Dirk Siemens Fischer, der 1801 nach Osteel zog. Aus Pastor Fischers Amtszeit in Rhaude wird folgendes berichtet: "Während seines Hierseins wurde die Gemeinde 1795 im März mit Einquartierungen von englischen Dragonern und französischen Emigranten sechs Wochen lang beschwert. Auch hannoversche Dragoner, deren Chef der Prinz von Cumberland, Ernst August, der später König von Hannover war, hatten hier 5 Wochen ihr Quartier, der Prinz im Pfarrhause, die Generäle von Reitzenstein und von Hammerstein in Bauernhäusern. 140 Militärpersonen genossen hier das Heilige Abendmahl. Zum Andenken an diese Zeit schenkte Seine Majestät Ernst August im Jahre 1845 der Gemeinde eine kostbare silberne Abendmahlskanne, die ein dankbares Andenken an dessen Zucht, und Ordnung in roher Zeit erhält." Dieser Bericht, zu finden im Ostfriesischen Monatsblatt, stammt von Pastor Fischers Nachfolger, Enno Christian Wilhelm Stellwagen, einem Pastorensohn aus Pogum. In seine Amtszeit fällt die Abtrennung der Kirchengemeinde Westrhauderfehn von der Parochie Rhaude. IV. Die Gründung der Kirchengemeinde Rhauderfehn Schon bevor in der Verleihungsurkunde vom 18. April 1769 der Bau einer evangelischen und einer katholischen Kirche genehmigt wurde, hatten die Planer und Gründer des Fehns genaue Vorstellungen über die Bedingungen, unter welchen dies möglich sein würde. Am 15. Januar 1768 schloß die Rhauderfehn-Compagnie mit Mehne Crinies (Meine Criens) und Oltmann Geerts die ersten Erbpachtverträge ab, in denen die Erbpächter sich verpflichten mußten, " .. im Fall eine Gemeinde errichtet werden sollte, dem Prediger alsdann alle Jahr 36 Stüber und dem Küster 18 Stüber, beides gegen Gold, zu entrichten, auch ersterem über dem ein Fuder schwarzen Torf jährlich zu liefern." Diese Bedingungen sind dann 60 Jahre später unverändert in die Gründungsprotokolle der Kirchengemeinde übernommen worden. Das älteste Protokoll, das überliefert ist, stammt vom 14. Januar 1824. Darin wird vorgeschlagen, wie die Stimmen bei der Wahl des Pastors verteilt werden sollen, wie der Prediger und der Lehrer bezahlt werden, wie diese und andere Ausgaben auf die Erbpächter und Untererbpächter verteilt werden sollen und wie später der Bau eines Pfarrhauses finanziert werden könnte. V. Gebäude Zwei Aufgaben hatte die junge Gemeinde nun vordringlich zu bewältigen: Sie mußte Räumlichkeiten für den Gottesdienst und andere Veranstaltungen beschaffen, und sie mußte ihren Pastor unterbringen. Vorgesehen war, nach drei Jahren ein Pfarrhaus mit dazugehörigem Garten- und Weideland zu stellen. So lange mußte Pastor Nellner zur Miete wohnen. Es dauerte aber fünf Jahre, bis er 1834 das neuerbaute Pfarrhaus beziehen konnte. Es stand auf demselben Grundstück wie die heutige Pastorei und wurde 1955/56 abgerissen und durch ein neues Gebäude ersetzt. 1953 war der Gemeindesaal errichtet worden, der 1972 ausgebaut wurde. Nach dem Ankauf eines weiteren Pfarrhauses dient das bisherige Pfarrhaus zur Aufnahme des Gemeindebüros, der Diakonie-Station und weiterer Jugendräume. Der Bau der Kirche ließ länger auf sich warten. Die Gottesdienste wurden rund zwanzig Jahre lang in der Schule am Untenende abgehalten, die zu diesem Zweck auf der Ostseite durch einen Anbau erweitert wurde und schon seit 1825 am Westeingang einen Glockenturm besaß. 300 Menschen hatten in diesem Gebäude Platz. Die Gemeinde umfaßte zu jener Zeit etwa 1000 Seelen; bereits 1846 war sie auf 1500 angewachsen, so daß die Schule für die Gottesdienste nicht mehr ausreichte und der Bau einer Kirche in Angriff genommen werden mußte. Das war ein beachtliches Projekt, denn die Kosten beliefen sich auf etwa 9000 Reichstaler, die zum größten Teil von der Gemeinde aufgebracht werden mußten. Die Hannoversche Landeskirche hielt eine Kirchenkollekte ab, die 860 Reichstaler erbrachte. Außerdem wurde in Ostfriesland eine Hauskollekte durchgeführt, deren Ergebnis aber nicht bekannt ist. An der Planung des Baues waren neben Pastor Nellner die beiden Kirchen Vorsteher Jann Wieben und Harm Diekmann und der Ortsvorsteher Heye Reents maßgeblich beteiligt. Sie übertrugen die Durchführung des Baues dem Zimmermeister Dirk Müller zu Rhauderfehn und dem Tischler und Zimmermeister Bengen in Detern. Am 5. Dezember 1848 war das neue Gotteshaus fertig und wurde durch den Generalsuperintendenten Hichen aus Aurich feierlich eingeweiht. Pastor Nellner hielt die Ansprache über 1. Mose 28, 17: "Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, hier ist die Pforte des Himmels." Die Kirche hatte aber zunächst noch keinen Turm. Dieser wurde in den Jahren 1885/86 von dem Maurermeister Schumacher aus Leer nach den Entwürfen des Ingenieurs Könecke aus Leer gebaut und kostete einschließlich des Geläutes und des Uhrwerks etwa 48 000 Mark. Die vier Läute- und eine Schlagglocke lieferte die Firma Radler & Söhne, Hildesheim. Die Spitze des Turms ziert noch heute ein vergoldeter Schwan als Windfahne. Als er dort angebracht wurde, so erzählt man, habe der Handwerker Heyo Kluin von seinem luftigen "Hochsitz" aus zufällig beobachtet, wie in Rhaudermoor ein Kind in einen tiefen Graben gestürzt sei. Er habe Alarm geschlagen, und das Kind habe tatsächlich noch gerettet werden können. Der Turm wurde 1971 renoviert und erhielt bei dieser Gelegenheit ein Kupferdach. Als der alte Friedhof, 1794 angelegt, später nach Norden hin, und nach Abbruch der alten Schule 1880 auch nach Süden hin erweitert, nicht mehr ausreichte, kaufte der Kirchenvorstand 1897 eine Fehnstelle an der Westseite der 1. Südwieke und legte dort einen neuen Friedhof an, der in der Folgezeit öfters erweitert wurde. Neben dem Friedhof stand eine Kapelle der Methodistengemeinde. Als diese aufgehört hatte zu bestehen, kaufte die lutherische Gemeinde 1906 die Kapelle, die heute bei den Trauerandachten benutzt wird; früher, als die Beerdigungen gewöhnlich vom Trauerhaus aus stattfanden, diente sie verschiedenen Jugendgruppen und für den Konfirmandenunterricht als Versammlungsraum. VI. Die Glocken
Aus dem kirchlichen Leben einer Gemeinde sind die Glocken nicht
wegzudenken; ihr Schicksal spiegelt häufig das der Gemeinde wider. Wie schon berichtet, besaß die Schule am Untenende einen Glockenturm, als sie zu kirchlichen Zwecken erweitert wurde. In dem Turm hing eine kleine Glocke mit der Inschrift: "Die erste Glocke des Rhauder-Fehns. M. F. Heidefeld
et M. Femy me fecerunt. Anno 1796." Mit der Gründung der Kirchengemeinde
kam eine zweite größere Glocke hinzu, die eine denkwürdige Geschichte hat.
Sie stammte aus dem untergegangenen Dollartland. Ihre ursprüngliche Inschrift
lautete: "Maria ik hote - de van flet - hebbet mi laten ghet - anno domi.
MCCCCLXIIII." Die Gemeinde zu Flet, d. i. Fletum, ließ sie im Jahre 1464
gießen, wahrscheinlich von dem berühmten Meister Ghert Klinghe. Um 1700
fand man sie im Turm der Kirche zu Nesserland bei Emden. 1829 wurde sie durch
Geerd Peters van Fleeten und Wessel Klesen für Rhauderfehn angekauft, sie
zersprang beim ersten Läuten. Ein Jahr später wurde sie umgegossen und mit
folgender Inschrift versehen: "Am 24. Juni 1829 wurde die lutherische
Gemeinde West-Rhauderfehn errichtet und eine Kirch-Turm-Glocke von Nesserland
angekauft, welche im Jahre 1464 gegossen und 1830 wieder erneuert wurde durch
Andries H. van Bergen, H. A. van Bergen und U. A. van Bergen." Bereits
1831 wurde die Glocke wieder zerläutet und seitdem nicht mehr benutzt. Als der Turm gebaut wurde, verwendete man für das neue Geläut die beiden alten Glocken mit. Das Geläut war auf den C-Dur-Grundakkord gestimmt. Es trug folgende Inschriften: Die große C-Glocke: "Ehre sei Gott in der Höhe und den Menschen ein Wohlgefallen"; die zweite E-Glocke: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben"; die dritte G-Glocke: "Bete und arbeite« und die vierte kleine C-Glocke: "Fang alles an mit Gott und halte sein Gebot". Am oberen Rand: "Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat". Auf der vorderen Mantelseite: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben". Die dritte As-Glocke wog 566 Kilogramm und trug oben herumlaufend die Inschrift: "Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet". Die vierte B-Glocke wog 406 Kilogramm und trug oben herumlaufend die Inschrift: "Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit". Auf allen vier Glocken stand ferner unter der oberen Randinschrift: "F. W. Rincker in Sinn goß mich im Jahre des Heils 1925". Auch dieses Geläut fiel dem Krieg zum Opfer. Die Glocken mußten 1943/44 abgeliefert werden. Erst am 21. Februar 1954 konnten die mit Hilfe von Spenden beschafften neuen Glocken durch Pastor Hinrikus Janssen in einem Gottesdienst geweiht werden. Sie sind aus Stahl und haben folgende Daten:
(Wegen zu großer Schwingungen des Glockenstuhles erklingt z. Zt. nur die größte Glocke mit dem Ton es'.) VII. Die Pastoren In den 150 Jahren ihres Bestehens ist die Kirchengemeinde Westrhauderfehn von zehn verschiedenen Seelsorgern betreut worden, davon über ein Drittel ihrer Geschichte, nämlich 53 Jahre lang, von ihrem ersten Pastor Christian Lebrecht Nellner. Keiner seiner Nachfolger hat auch nur annähernd eine so lange Tätigkeit auf dem Fehn aufzuweisen. Pastor Nellner hat alle entscheidenden Phasen und Ereignisse der jungen, wachsenden Gemeinde miterlebt und geprägt. Höhepunkt seiner Amtszeit war sicherlich der Bau der Kirche. Am 6. November 1882 trat er, 79 Jahre alt; in den Ruhestand und verbrachte die letzten fünf Jahre seines Lebens in Leer, wo er am 13. Juni 1887 starb. Er wurde auf dem alten Friedhof in Westrhauderfehn beigesetzt.
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