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Vom Schmuggel, von der Liebe und einem Gedicht von Molière

Das Leben des Ditzumer Franzosen Hugues Humbert vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung Ostfrieslands im 19. Jahrhundert

geschildert von Wolbert G. C. Smidt

in: Ostfriesland-Magazin 10/1997

"Woher kam sein Geld?" - Diese Frage muß manchen mit dem Ditzumer Einwohner Hugues Humbert (1) (1790-1856) verbundenen Menschen beschäftigt haben, denn in allen mündlichen und schriftlichen überlieferungen, die von dieser angesehenen Gestalt der Ditzumer Dorfgeschichte berichten, wird auch die Herkunft seines Vermögens erörtert - wenn auch meistens in Andeutungen. Die einen sind erkennbar ehrenrettend gemeint, die anderen zeichnen vage das bunte Bild eines Schmugglerkönigs. Doch die meisten dieser überlieferungen berichten aus einer viel späteren Sicht und verschütten daher mehr, als sie erklären.

Eines steht jedoch fest: Hugues Humbert hat als Zollbeamter 1812/13 von Ditzum eine Schlüsselposition bei der systematischen Durchbrechung der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre inne gehabt. Manche erzählten zwar in neuerer Zeit, wie der vor einigen Jahren verstorbene ehemalige Ditzumer Gemeinderat Hermann Brouer, Humbert sei ganz einfach daher zu Geld gekommen, weil ihm seine Eltern welches aus Frankreich geschickt hätten; und Admiral Karl Smidt - ein Humbert-Nachfahre - meinte, er habe in Wirklichkeit nur seinen Schwiegervater beerbt. Doch Erzählungen von Ditzumern, die zu seiner Zeit gelebt hatten, und einiger Kindeskinder lassen keinen Zweifel daran, daß er gerade in seiner Funktion als kaiserlich-französischer Zöllner wohlhabend geworden war - durch die Unterstützung einer Schmuggelverbindung über den Dollart. Die zahlreichen überlieferten Details aus seinem Leben geben uns heute eine seltene Gelegenheit, Einblicke in die Franzosenzeit Ostfrieslands zu gewinnen.

Der historische Hintergrund.

Es lohnt sich, zunächst ein Bild des historischen Hintergrundes zu zeichnen zum besseren Verständnis des Lebens dieser Zeugen einer für Ostfrieslands spätere Entwicklung wichtigen Zeit. Als Hugues Humbert starb, ging mit ihm ein Zeitalter zu Ende, das damals zwar noch in Form von zahllosen Geschichten präsent war, aber von der offiziellen Geschichtsschreibung bereits nur noch als Ausrutscher erwähnt wurde, als etwas Widernatürliches, als ein kurzlebiges Ergebnis eines Räuberzuges, mit dem Europa und mit ihm Ostfriesland in Ketten gelegt worden waren, die gesprengt wurden, sobald der Räuber geschwächt darniederlag. Der angebliche Räuber hieß Napoleon. Die kurze Periode, die Europa umgestaltete, nannte man die "Franzosenzeit". Doch was im Rückblick als eine Episode dargestellt wird, das sah doch zu Beginn nach etwas ganz anderem aus. Wenige "Episoden" sind derartig prägend für Ostfrieslands Zukunft gewesen - sie war schon prägend, obwohl sie gerade erst begonnen hatte -, wohin wäre die Entwicklung erst gegangen, wenn die Namen anderer als Sieger der Geschichte in die Bücher eingetragen worden wären?

In der Zeit Napoleons waren weite Teile Deutschlands von französischen Truppen besetzt. Doch weniger bekannt ist, daß mehrere Grenzregionen, zu denen auch Ostfriesland zählte, für einige Zeit sogar ganz zu Frankreich gehörten. Und natürlich muß man auch darauf hinweisen, daß es Deutschland - dessen Existenz hier ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird - damals noch gar nicht gab, schon gar nicht in der Form, die man eigentlich von einem ordentlichen Land verlangt: nämlich als ein mehr oder weniger einheitliches Gebiet mit einer gemeinsamen Sprache und Kultur. Daß Deutschland, wozu auch Ostfriesen Ostfriesland heute gewöhnlich zählen, in dieser Form erst eine spätere romantische Erfindung ist, ist recht wenigen bewußt. Es ist interessant, auch daran zu erinnern. Ostfriesland ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war nämlich seine Zugehörigkeit zu einem ganz bestimmten Staatsgebilde alles andere als selbstverständlich.

 

Gerne erinnert man sich zwar daran, daß Ostfriesland jahrhundertelang - nach einer fast legendären Zeit als freier Verbund mehrerer "Bauernrepubliken" - ein selbständiger Staat gewesen war. Daß es aber nach Aussterben seiner Fürsten an die Könige von Brandenburg-Preußen gekommen war, war deren Verhandlungsgeschick und Machtstreben zu verdanken, nicht irgendeiner historischen Verbundenheit. Ostfriesland hätte aufgrund alter Verbindungen beispielsweise auch schwedisch werden können oder niederländisch. Nun kam es in der Mitte des 18. Jahrhunderts aber zum Preußen Friedrich dem Großen. Preußens Erfolg, doch sicherlich auch einer gewissen vor allem unter dem Kanzler Homfeld bewahrten Autonomie, ist es zu verdanken, daß die Ostfriesen diese neue Lage bejahten und begannen, sich mit diesem Staat zu identifizieren.

 

Holland kam somit zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit seinem Versuch, Ostfriesland einzunehmen, historisch zu spät. So stellt es sich in der Nachschau dar. Das nachrevolutionäre Frankreich hatte damals bereits mehrere Kriege geführt; Holland war in die Hände Napoleons gefallen, sein Bruder Louis Napoleon König von Holland geworden. Bald war Ostfriesland besetzt (1806), und im darauffolgenden Jahr wurde es zur holländischen Provinz "Oostfriesland". Das linksemsische Rheiderland wurde abgespalten und vereinigte sich wie bereits einige Jahrhunderte zuvor mit der Provinz Groningen. Die Institutionen Hollands wurden eingeführt und mit ihnen die holländische Sprache. Napoleon stand aber vor wesentlich radikaleren Umordnungen der europäischen Landkarte. Holland behandelte er so, wie er später von den Deutschen behandelt werden sollte - als eine Episode. Holland wurde in Frankreich eingegliedert. Die Provinzen des holländischen Königreiches und mit ihnen Oostfriesland - wurden nun Departements des französischen Kaiserreiches (1811). Zweite Amtssprache neben dem Holländischen wurde das Französische; pragmatischerweise wurde den Ostfriesen rechts der Ems auch das Deutsche, das sich dort längst in den Kaufmanns- und Verwaltungskreisen durchgesetzt hatte, zugestanden.

 

Ganz Ostfriesland stellte sich nun auf die neue Staatszugehörigkeit ein. Auch die Ostfriesen mußten nun also Französisch lernen. An dieser Stelle tritt der junge Huques Humbert erstmals im Rheiderland auf. Der ostfriesische Historiker Tilemann Dothias Wiarda schildert, wie in Ostfriesland, neu aufgeteilt in zahlreiche Mairien, Arrondissements und die Departements Ems Orientale und Ems Occidentale, zahlreiche französische Beamte eingesetzt wurden. Die holländischen Departements waren für Napoleon ein strategischer Glücksfall - von innen aus konnte ein großer Teil des England-Handels zum Erliegen gebracht werden. Die Kontinentalsperre erforderte bedeutende organisatorische Anstrengungen auch an der friesischen Küste.

 

In einem alten französischen Familiendokument (2) berichtet eine Cousine von Hugues Humbert, daß er sehr jung als Zöllner in die Dienste des aufstrebenden französischen Kaiserreiches getreten war und sehr bald an dessen äußerste nördliche Grenze versetzt wurde - nach Holland. Er war gerade 21 Jahre alt, als er von Delfzijl, aus in dem Fischer- und Schifferdorf Ditzum am Dollart im französisch-holländischen Departement Ems Occidentale, auch Ouest-Ems genannt, ankam, um von dort aus die Einhaltung der Kontinentalsperre zu überwachen.

 

Molière und Ostfriesland - die Liebesgeschichte

Ein kürzlich wieder aufgetauchtes Gedicht rückt eine Begebenheit aus dem Leben dieses jungen Zöllners ins Blickkfeld. In den Papieren des zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstorbenen Professors Dr. Claas Humbert (1830-19O4) hat sich ein kurzes Gedicht von Molière gefunden, das er einmal aus dem Französischen übersetzt hatte.

"La Chanson d'Alceste

Hätte König Heinrich mir

Ganz Paris gegeben,

Und ich sollt' entsagen Dir,

Mein Herzlieb, mein Leben,

"Danke!" sagt ich, König Heinz!

Dir Paris! mein Lieb bleibt mein's!

Habe meinen Schatz, juchhe!

Tausend Male lieber!"

(gedruckt in: Molière und seine Bühne, Molière-Museum, VI. Heft, Wiesbaden 1884, S. 106)

Der kurze, bündige und freche Jubelruf dieses Gedichtes aus Molières Stück "Le Misanthrope" gewinnt durch die persönliche Geschichte des übersetzers eine Bedeutungsebene, die einem nichteingeweihten Leser verborgen bleiben muß. Nicht verborgen ist zunächst nur der historische Hintergrund des Gedichtes: Wer mit Frankreich vertraut ist, erkennt leicht, daß sich der Sprecher - die Kunstfigur Alceste - an die historische Figur des 16. Jahrhunderts Henri IV. von Frankreich wendet, der für seine Lebenslust und gleichzeitig seine kluge, pragmatische Politik bis heute berühmt ist. Er hatte seinen protestantischen Glauben abgelegt, als sich ihm die Chance bot, die Krone Frankreichs zu erlangen. "Paris ist eine Messe wert!" soll er bei dieser Gelegenheit gesagt haben (nämlich eine Messe zur Annahme des katholischen Glaubens). Paris fühlt sich bis heute geschmeichelt. - Doch was ist Paris gegen die Liebe?

Gleichzeitig führt uns dieses Gedicht - in dieser übersetzung - in das napoleonische Ostfriesland, über ein Jahrhundert nach Molière. Der Sprecher dieser Zeilen hieß in Wirklichkeit nicht Alceste, er hieß Hugues Humbert. Und der spätere Molière-Forscher und in Frankreich, Deutschland und England bekanntgewordene Romanist Claas Humbert war sein Sohn (3). Als Kind hatte er ihn oft Molière lesen und rezitieren hören, denn der Vater liebte die französische Literatur, von der er in Ostfriesland so sehr isoliert war, darunter auch dieses Gedicht, besonders wenn er von den Monaten erzählte, denen Claas seine Existenz zu verdanken hatte. Denn was damals geschehen war, war kein Geheimnis. Damals - das war 1812.

Trientje Homfeld war eine 16jährige Halbwaise und wohnte mit ihrem jüngeren Bruder Hermann auf dem schönen großen Ditzumer Hof ihrer Mutter. Ihr junger Vater, Klaas Poppen Homfeld, war bereits in der holländischen Zeit gestorben. Er war ein Mitglied der seit 1650 in Ditzum ansässigen wohlhabenden Honoratioren- und Bauernfamilie Homfeld, aus der auch der zuvor erwähnte Kanzler Sebastian Anthon Homfeld stammte, der zwei Generationen zuvor an der Spitze der Regierung des Fürstentums Ostfriesland gestanden hatte. Doch dies war Vergangenheit. Nun mußte sich Klaas' Witwe Metje Christina Bras allein um das Wohl ihrer beiden Kinder sorgen. Sie scheint eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen zu sein, denn ihr Name wurde von ihren zahlreichen Nachkommen nicht vergessen. Sie betrieb mehrere Höfe der Brasschen und Homfeldschen Familie, doch nicht nur das, wahrscheinlich war sie auch an den Brasschen Ziegeleien beteiligt, die der Familie ein gutes Auskommen sicherten.

Hugues Humbert, der junge Dituumer Verwaltungsbeamte und kaiserliche "dounier" (Zöllner) im Dienst des Amsterdamer Zolldirektors Baron Coquebart de Montbret, hob sich durch sein äußeres und durch seine Rolle von seiner dörflichen Umgebung ab. Mit der Bevölkerung, über deren Schicksal er als französischer Verwaltungsbeamter trotz seiner Jugend mitzuentscheiden hatte, verständigte er sich mit seinem rudimentären Holländisch, das er sich in wenigen Monaten angeeignet hatte. Doch wer sich zur Ditzumer "Gesellschaft" zählte, der lernte nun Französisch. Humbert gab deshalb Französischstunden und besserte so sein Einkommen etwas auf. Es waren Kriegszeiten, das Salär war gering. Humbert scheint Erfolg dabei gehabt zu haben, er war ein begabter und interessanter junger Mann, er liebte die Literatur, mit der er im Elternhaus groß geworden war - und war stets gut gekleidet.

 

Daß er auch leidenschaftlich malte, zeigt eine Anekdote aus seiner Kindheit: Während der Wirren der Französischen Revolution war er in der kleinen Handelsstadt La Capelle en Thiérache im Norden Frankreichs aufgewachsen, als einziger Sohn einer klugen und gebildeten Kaufmannstochter und eines Tabakkaufmanns aus einer Zöllnerfamilie, der kurz nach Napoleons Aufstieg auf den Kaiserthron Bürgermeister des Ortes geworden war. Er malte damals in jeder freien Minute. Als er einmal "Rebekka am Brunnen" gezeichnet hatte, träumte er nachts, daß seine Cousine, die bei ihnen als Haushaltshilfe in Pension lebte, das Bild beim Putzen verwischte. Tatsächlich geschah ihr bereits am nächsten Morgen dieses Mißgeschick. Hugues schleuderte wutentbrannt und aufgewühlt ein Reißbrett in einen Schrankspiegel, rannte zu seinem Onkel und erklärte, er werde von nun an das Elternhaus dieser Cousine nie wieder betreten. Er hat Wort gehalten - und wurde deshalb vom Onkel später auch nicht als Erbe berücksichtigt. Doch zurück ins Jahr 1812.

 

Auch die junge Trientje wurde damals seine Schülerin, und bald darauf seine Geliebte. Das im Jahr darauf - 1813 - geborene Töchterchen wurde nach dem französischen Großvater "Henriette" und nach der ostfriesischen Großmutter "Metje" genannt; aus einer der überlieferungen kann man wohl schließen, daß es bei Beginn neuerlicher Kriegswirren zu den Großeltern in der Picardie kam, wo es zehn Jahre lang blieb.

 

Denn schon bald erlitt Napoleon seine ersten Niederlagen. In Norddeutschland waren inzwischen weitere Gebiete zu französischem Territorium erklärt worden, aber anders als Ostfriesland wurden diese Gebiete kaum mehr in das französische Staatswesen eingegliedert. Und in Preußen und Rußland wendete sich das Blatt. Der preußische General Yorck kündigte die Gefolgschaft auf und gab damit das Zeichen für den Abfall der zwangsverbündeten Preußen, die französischen Armeen verloren jeden Rückhalt. Ein Gebiet nach dem anderen wurde nun von fremden Truppen besetzt, im November 1813 setzten russische Truppen in Aurich den französischen Präfekten des Departements Ems-Orientale fest. Gleichzeitig erging ein Befehl an die Beamten noch nicht besetzter Gebiete, zu denen auch Ditzum gehörte, sich an den Häfen einzufinden, wo Schiffe sie nach Delfzijl bringen sollten. Als auf dem Schiff beim Verlesen der Namenslisten auch Humbert aufgerufen wurde, rief einer, der in Humberts Pläne eingeweiht war: "Hier!" Als der Irrtum entdeckt wurde, hatte das Schiff bereits abgelegt.

Humbert war untergetaucht. Ein strenger Befehl des preußischen Interimspräfekten, alle verbliebenen Franzosen zu melden, blieb in Humberts Fall erfolglos. Keiner schien zu wissen, daß er sich noch immer im Rheiderland aufhielt. Noch als alternder Herr, Vater von zwölf Kindern, von denen elf lange nach dieser Zeit geboren wurden, liebte er es, von dieser Zeit des Untergetauchtseins zu erzählen.

Der Ort, an dem ihn Trientje und ihre Mutter Metje Bras vom Herbst 1813 an in völliger Einsamkeit versteckt hielten, war das "Aantnüst", ein einsam gelegener Hof bei Wynhamster Kolk, der der Familie Homfeld gehörte. Trientje besuchte ihn dort regelmäßig und heimlich (oder wohnte sogar bei ihm). Das Frankreich wieder entrissene Ostfriesland wurde nach dem Wiener Kongreß von 1815 dessen traditionellem Rivalen England überlassen; für die nächsten zwei Generationen kam es unter die großbritannisch-hannoversche Krone.

 

Es scheint eine sehr schöne Zeit für ihn gewesen zu sein - auch Dank der Verschwiegenheit und der Vorkehrungen von Trientjes 38jähriger Mutter. Die sonst so trockenen Geburts- und Heiratsurkunden geben in diesem Fall eine interessante Auskunft: Metje Bras hatte selbst einmal ihre Liebeszeit erlebt, und zwar mit dem damals 18jährigen Nachbarssohn Klaas Homfeld, den sie heiratete, als Trientje bereits "unterwegs" war. Das könnte die Ursache einer besonderen Verbundenheit gewesen sein.

 

Erst als die fremden Truppen das Land verlassen hatten, trat Humbert wieder hervor, versehen mit einem verdeutschten Namen, Hugo Humbert - für die Behörden, die noch immer nach verdächtigen Franzosen suchten. Ende 1814 heiratete er unter diesem Namen in Jemgum offiziell seine Trientje Homfeld, die er zärtlich "Catherine" nannte. Es folgten weitere elf Kinder. Einige davon wuchsen bei der Großmutter mit dem klangvollen Namen Marie Marguerite Florimonde in La Capelle en Thiérache auf, die regelmäßig mit der Kutsche anreiste, um ein Enkelkind mitzunehmen und ein anderes wiederzubringen. Er selbst aber sah Frankreich nie wieder; als Deserteur durfte er französischen Boden nicht betreten. Er hatte Paris gegen seine Liebe eingetauscht, wie Alceste. "Dir Paris! mein Lieb bleib mein's!"

Schmuggel verbindet

Trotz seiner kleinen Namensmaskerade wußte natürlich jeder in Ditzum, wer er war, doch man deckte ihn. Warum? Wenn man Wiardas Erzählungen folgt, so waren die "douanen" verhaßt gewesen, sie erstickten den Handel, von dem Ostfriesland lebte, sie verlangten Schmiergelder und ließen sich an zahllosen Transaktionen beteiligen, ohne daß sich jemand auf ihr Wort verlassen konnte. Die Ostfriesen waren gezwungenermaßen zu einem Volk von Schmugglern geworden. England, traditionell ein wichtiger Handelspartner der nah- und fernreisenden Ostfriesen, war offiziell vom Festland abgesperrt. Doch vor den ostfriesischen Häfen, außerhalb der Reichweite der französischen Behörden, gab es einen regen Schiffsverkehr, zum Teil Umladungen englischer Waren auf kleine Fischerboote. Einem Zollbeamten konnte dies nicht verborgen bleiben.

Humbert traf in dieser Situation eine für sein ganzes späteres Leben entscheidende Wahl: Er stellte sich auf die Seite der teils vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch stehenden Bevölkerung. Indirekt wird seine Stellung deutlich aus einem Prozeß, der gegen ihn geführt wurde, da er in seinem Verwaltungsbezirk einem kinderreichen Fischer die Steuern erlassen hatte - aus Mitleid, wie es hieß. Dieser endete mit einem salomonischen Spruch, der Humbert die Hände frei gab für seine Art der Gesetzesinterpretation: Sein Herz solle ihm in seinen Entscheidungen weiterhin Leitlinie sein, wurde ihm aus Paris beschieden. Seine Entscheidungen galten als gerecht, weshalb seine vorgesetzten Behörden ihn von allen Vorwürfen entlasteten. Ihnen war wohl verborgen geblieben, daß Humbert bereits im großen Stil selbst von der Kontinentalsperre betroffene Waren einführte. Er spezialisierte sich auf Kolonialwaren aus England, insbesondere führte er große Schiffsladungen mit Zucker ein, der unter einer Sandschicht verborgen war. Im Austausch lieferte er Getreide nach England mit Schiffen, die er wiederum als Zollbeamter zu kontrollieren hatte. So wurde er für den über Ditzum laufenden Englandschmuggel zu einer zentralen Vertrauensperson. Relotius, ein ostfriesischer Kaufmann, wurde damals reich, indem er Särge transportierte, in denen Indigo versteckt war.

Als Ostfriesland von russischen Truppen besetzt wurde und Humbert sich schnell entscheiden mußte, mag also auch eine Rolle gespielt haben, daß er in diesem verlorenen, nördlichen Teil des Reiches bereits ein kleines, aber ungesetzliches Vermögen angesammelt hatte und das Netz an mit ostfriesischen Kaufleuten geknüpften Kontakten ihm einen gewissen Rückhalt in den kommenden kritischen Monaten versprach. Und er hatte bereits ein Kind! Trientje war außerdem aus einer guten, traditionsreichen Familie - was konnte er in Frankreich noch mehr gewinnen? Fortan sicherte ihm und seiner Familie die Vielzahl der von ihm betriebenen Geschäfte die Existenz, wenn auch nicht immer mit gleichem Erfolg. Er betrieb eine landwirtschaftliche Besitzung, pachtete ein Mühle, von der Familie Bras übernahm er eine Ziegelei, die er ausbaute. Dabei machte er eine besondere Erfindung, nämlich eine neuartige Ziegelform "System Humbert", mit der er sogar Erfolg hatte.

Im Dorf erzählte man sich unterdessen, er habe auf seine alten Tage leider den Verstand verloren. Bei einem Tischler hatte er ein "Hoppelpeerd", ein Pferd aus Holz, bestellt und es sich in der Scheune aufstellen lassen. Ein Dorfbewohner muß ihn nun von einer Türspalte beobachtet haben, denn bald hieß es, Humbert reite auf dem Schaukelpferd in der Scheune gen Frankreich, da er seines Heimwehs nicht mehr Herr werden könne, melancholisch vom Land seiner Kindheit singend. Tatsächlich hatte er sich das Pferd bestellt, um sich an langen Wintertagen Bewegung zu verschaffen, da wegen der vermatschten Wege das Dorf fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten und jeder längere Gang sehr mühselig war. Ein Pferd war ihm sportlicher erschienen als ein Schaukelstuhl, denn auf sein körperliches Wohl legte er, leicht hypochondrisch veranlagt, größten Wert.

Die erhaltenen Charakteristika zeichnen das Bild einer gleichzeitig respektgebietenden und drolligen Gestalt. Trotz (oder gerade wegen?) seiner Zurückgezogenheit beschäftigte er noch lange nach seinem Tod die Phantasie der Ditzumer - immerhin hatte er manchem von ihnen geholfen, einen illegalen Wohlstand zu begründen und wurde später zu einem innovativen Dorfunternehmer im Rahmen der im 19. Jahrhundert bedeutenden Ziegeleiindustrie des Rheiderlandes - und ganz nebenbei prägte er mit seinen Neuerungen einige Ditzumer Küchen. Gutes Essen war ihm als Franzosen heilig, und noch Generationen später beherrschten die Nachfahren besondere Kniffe der Küche; berühmt waren Anfang dieses Jahrhunderts die öffentlichen, leckeren Suppen der "Tanten Humbert", zweier seiner jüngeren Töchter, die unverheiratet in der Ditzumer "Borg", ihrem Elternhaus, wohnen geblieben waren, und die Armen des Dorfes mitbeköstigten.

 

Humbert genoß viel Respekt, man redete ihn mit "Heer" an, einer damals ganz unüblichen Anrede, die nach Auskunft des Chronisten Pfarrer Reinhard Smidt nur noch zwei weitere angesehene Einwohner genossen: Der dichtende Dorflehrer und Organist Wolbert Wolberts Smidt (4), den man auch "Mester Smied" nannte, ein enger Freund Humberts, und der für seine ungewöhnliche Energie bekannter "een Füürfreeter" genannte Bauer Hopke Mansholt, ein Verwandter der Homfelds.

 

Als Humbert einmal nach einer Sitzung der Emder Freimaurerloge "Zur Ostfriesischen Union", deren Mitglied er war und deren bedürftige Mitglieder er zum Kummer seiner Frau Trientje finanziell unterstützte, einen langen Weg durch den Schnee und den Wind zurücklegte, erkältete er sich und starb wenig später an einer Lungenentzündung.

 

Im Jahrhundert darauf wurde die Gemeinde Ditzum aufgelöst und ging in Jemgum auf. Die übergabe der Amtsgeschäfte durch den letzten Bürgermeister erfolgte nach dem Gottesdienst per Handschlag an Humberts Grab, der letzten Ruhestätte dieses ersten Verwaltungschefs von Ditzum (so hieß es). Das moderne Ditzum war als Verwaltungseinheit eine Schöpfung der Franzosen, die die alten Vögte, Olderlinge, Deich- und Sielrichter der alten friesischen Verfassung durch ihre Verwaltungsbeamten abgelöst hatten. Nun gibt es in Ditzum nur noch das alte - als Teil eines Ensembles geschützte - Grab vor der Kirche, das an "Hugo Humbert" erinnert. Die alten Bewohner Ditzums, von denen man noch manches über den "Franzoos, der bi de Kommissen waass" erfahren konnte, die noch Alte gekannt hatten, die sich an Humbert persönlich erinnerten, sind nun auch alle gestorben. Und Ostfriesland ist heute eine abgelegene Ecke Deutschlands; ob es besser gewesen wäre, bei Holland oder Frankreich zu bleiben? Doch auch in diesen Ländern wäre es ein zwar geschichtenreiches, doch etwas verlorenes "Endje van de Welt" nun, da die Konkurrenz mit England um die Herrschaft auf den Meeren nur noch Geschichte ist.

 

(1) Sein Leben wird kurz beschrieben in dem kürzlich erschienenen 2. Band des Biographien Lexikons für Ostriesland, Artikel "Humbert <Familie>"

(2) Eine kurze Familien-übersicht von Rosalie Leclère née Azambre, 1898 in Reims ihrem Großneffen Hugo Humbert aus Bielefeld diktiert; in einer Abschrift im Archiv des Pfarrers Reinhard P. W. Smidt, bei Botschaftsrat I. Kl.Wolbert K. Smidt, 7 Rue LeSueur, 75018 Paris.

(3) Sein Leben und Werk wird ausführlich im 2. Band des Biographischen Lexikons für Ostfriesland in dem Artikel "Humbert, Claas Hugo" behandelt.

(4) vgl. der Artikel über ihn in der Beilage der Ostfriesen-Zeitung "Unser Ostfriesland~" Nr. 24 vom 24. Dezember 1996

 

 

 

 

 

 

 

 

"Das um 1850 entstandene Porträt zeigt Humberts 1813 geborene uneheliche Tochter Henriette Metje, die mit dem Prediger des Nachbarortes, Harbert W. Feenders zu Oldendorp, verheiratet war."